Hepatitis C: Gießkannenprinzip oder Spezialdiagnostik? Testen wir teuer und falsch?

Holger Wicht führt in das Thema ein und erklärt, dass Hepatitis C (HCV) seit einigen Jahren heil-bar ist. 95 Prozent der Infizierten könnten geheilt werden. Umso tragischer sei es, dass viele geheilt werden könnten, wenn sie denn von ihrer Infektion wüssten. Die Weltgesundheitsorga-nisation WHO habe diese Problematik erkannt und das Ziel ausgerufen, die HCV-Epidemie als Bedrohung der öffentlichen Gesundheit bis 2030 auszulöschen. Dann sollten 90 Prozent diag-nostiziert sein, 80 Prozent davon behandelt sein. Laut Robert-Koch-Institut seien dazu bis 2030 ungefähr 80.000 Diagnosen notwendig, aktuell seien es 4000 bis 5000, das reiche also bei wei-tem nicht. Da müsse also dringend verbessert werden. Mediziner Dr. Sven Schellberg aus Berlin schlage vor, einfach alle Menschen ab 35 Jahren zu testen im Rahmen des Check-ups ab 35. Ärztin Dr. Nazifa Qurishi hingegen sagt, so werde das nicht funktionieren, getestet werden sollten nur diejenigen, die ein erhöhtes Risiko haben.

  • Dr. Nazifa Qurishi | Praxis Gotenring | Köln
    Dr. Sven Schellberg | Novopraxis | Berlin
    Co-Chair: Domenico Fiorenza | Luxemburg
    Moderation: Holger Wicht

  • Dr. Sven Schellberg ist niedergelassener Allgemeinmediziner und befasst sich in seiner Berliner Praxis ausschließlich mit sexueller Gesundheit. Er stellt zu seiner Position drei Thesen auf. Die erste lautet: „Jede*r hat Anspruch auf Stellung einer Hepatitis-Diagnose.“ Wenn man nur nach Zielgruppen testen wolle, müsse man zunächst fragen, wer denn die Zielgruppe sei: Sind es die intravenös Drogen Gebrauchenden, oder ist es die 68-jährige Frau, die irgendwann einmal im Rahmen einer Schwangerschaft eine Bluttransfusion erhalten hat, oder doch jemand der sexuell irgendwelche Abenteuer erlebt hat? Könne die Zielgruppe überhaupt definiert werden? Zwar sei Hep-C einerseits inzwischen in fast 99 Prozent der Fällen heilbar, sei aber andererseits eben auch eine potenziell tödliche Erkrankung, die Leberfibrosen, Leberzirrosen und irgendwann dann auch Leberkrebs entwickeln könne. Zudem trete sie viel häufiger auf als zum Beispiel HIV.

    Schellbergs zweite These: „HIV hat gezeigt, dass die Zielgruppen-spezifische Testung die Rate (zu) spät diagnostizierter Patient*innen nicht zu beeinflussen vermag.“ Im HIV-Bereich seien sehr lange zielgruppenspezifische Testungen durchgeführt worden, was sehr erfolgreich gewesen sei. Gleichzeitig gebe es aber immer wieder auch Patienten, die eigentlich viel zu spät diagnosti-ziert würden. Es sei viel probiert worden, um das zu verhindern: neben zielgruppenspezifischen Testungen unter anderem auch Testungen in Notfallambulanzen. Trotzdem habe Deutschland gerade im Bereich der Verhinderung von Spätdiagnosen überhaupt keine Fortschritte gemacht. Es gebe in Deutschland vermutlich rund 15.000 Patienten, die trotz zielgruppenspezifischem Screening nicht gefunden würden – mit allen Konsequenzen, die in Bezug auf Mortabilität dahinter lägen.

    Schellberg geht davon aus, dass sich die Problematik bei Hep-C (und auch Hep-B) ähnlich darstellt. Daher müsse man neue Wege gehen, auch wenn er einräumt, dass das Konzept der Brei-tentestung im Rahmen des Check-up 35 kein ideales Instrument sei. Es sei aber ein Einstiegs-instrument, um Patienten zu finden, die selbst nichts über ihr Risiko wissen.

    Schellbergs dritte und abschließende These: „It’s time to talk about it.“ Als Schellberg sich 2018 entschlossen habe, bei seiner neu gegründeten Praxis das Thema sexuelle Gesundheit aufs Schild zu schreiben, da sei das mit dem Reden über sexuelle Krankheiten und mögliche Stigma-ta noch nicht so einfach gewesen. Das sei inzwischen viel leichter geworden. Eine breite Testung auf Hep-B und Hep-C im Rahmen des Check-ups 35 sei aus seiner Sicht auch ein Türöffner für Patienten, die von sich aus über dieses Thema nicht sprechen würden. Und es würde auch seine Kolleg*innen dazu zwingen, sind mit sexuell übertragbaren Krankheiten auseinanderzusetzen.

  • Dr. Nazifa Qurishi sagt, sie habe grundsätzlich nichts dagegen, alle Menschen einmal auf Hep-B und -C zu screenen. Aber: Die meisten Menschen mit einer Hep-C-Infektionen gehörten zu den so genannten „vulnerablen Gruppen“: darunter Wohnungslose, die auf der Straße leben, Hero-inkonsument*innen, Migranten, Gefangene, Blutproduktempfänger.

    Deutschland könne das von der WHO aufgestellte Ziel, Hep-C bis 2030 zu eliminieren, errei-chen, müsse dazu aber jedes Jahr mindestens 9.900 Therapien starten. Diese Zahl sei in den vergangenen Jahren aber nur ein einziges Mal erreicht und ansonsten immer deutlich unter-schritten worden. Daher sei seitens der Bundesregierung das einmalige HCV-Screening im Rah-men des Check-up 35 für alle Kassenpatienten ab 35 Jahre ins Leben gerufen worden. Dazu werde bei der allgemeinen Gesundheitsuntersuchung eine Blutprobe auf HCV getestet und bei einem positiven Befund der Hausarzt bzw. die Hausärztin informiert. Allerdings habe Qurishi schon mehrfach die Erfahrung gemacht, dass diese ihre Patienten zwar über die Infektion infor-miert hätten, gleichzeitig aber abgewiegelt hätten. Die Leberwerte wären ja noch in Ordnung und deshalb müsse man (noch) nicht therapieren. Schließlich sei die Therapie ja aufwendig und teuer.

    Qurishi zeigt Anhand von Daten des RKI, dass seit Einführung des Screenings im Oktober 2021 die Hep-B und C-Diagnosen stark angestiegen sind. In Köln würden besonders viele türkische Mitbürger*innen mit Hep-B diagnostiziert, die oft schon seit ihrer Geburt infiziert seien, weil das Virus von der Mutter aufs Kind übergegangen sei. Der Haken dabei sei aber: Niemand wisse, wo diese Patient*innen blieben, zumindest in Köln. Qurishis Praxis sei auf Hepatitis-Therapien spezialisiert. Und obwohl die Zahl der Diagnosen seit Oktober 2021 auch in Köln deutlich ge-stiegen sei, verzeichne sie keinen großen Zulauf von neuen Patient*innen.

    Problematisch sei auch, dass gerade Suchtpatient*innen den Check-up 35 kaum in Anspruch nähmen, weil diese oft bei Psychiatern substituiert würden, die in der Regel gar kein Blut ab-nehmen könnten. Fast 40 % aller substituierenden Ärzt*innen seien keine Hausärzt*innen und führten daher kein Screening durch. Damit sei das Check-up-Screening gerade in den vulnerablen Gruppen unterrepräsentiert. Und dabei forderten die Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Suchtmedizin sogar ein jährliches Screening auf Hepatitis und HIV, statt einer einmaligen Screening-Aktion für alle.

    Zusammenfassend fordert Qurishi, Testungen auf niederschwelliger Basis anzubieten, zum Bei-spiel angesiedelt bei den Aids-Hilfen, und bei positiven Ergebnissen die Patient*innen an die Hand zu nehmen, damit sie auch eine entsprechende Therapie bekommen.

  • Domenico Fiorenza, der jahrelang in der AG Aids-Prävention Veröffentlichungen und Daten ana-lysiert und ausgewertet hat und inzwischen bei der Europäischen Kommission in Luxemburg tätig ist, hat, ähnlich wie Qurishi, den Eindruck, dass das Hep-Screening im Rahmen des Check-up gerade für die vulnerablen Gruppen wenig bis gar nichts gebracht hat.

    Schellberg ist der Ansicht, dass bei vielen Hausärzt*innen Fortbildungen zum Thema Hepatitis notwendig wären. Allerdings könne er auch verstehen, wenn Kolleg*innen davor zurückschreck-ten, eine Behandlung im Wert von 30.000 Euro auf das Rezept zu schreiben und die Patient*innen stattdessen lieber an Fachärzt*innen verwiesen.

    Eine Zuhörerin aus dem Publikum findet es sehr gut, dass es das Hep-Screening gibt, auch um das noch immer damit verbundene Stigma wegzubekommen. Sie bedauert allerdings, dass HIV nicht auch dabei ist. Sie spricht sich auch gegen ein Entweder/Oder aus und befürwortet, das einmalige Screening beizubehalten und zusätzlich weitere Maßnahmen für vulnerable Gruppen zu etablieren.

    Wicht bringt die Ausgangsfragestellung noch einmal auf den Punkt mit der Frage, ob man das viele Geld, dass ein Massenscreening kostet („Gießkanne“), nicht sinnvoller in der zielgruppen-spezifischen Testung und Behandlung angelegt wäre.

    Schellberg antwortet, dass der einzelne Hep-Test etwa 20 Euro koste plus ca. fünf Euro, die der/die behandelnde Ärzt*in abrechnen kann. Natürlich sei das auf die Masse hochgerechnet viel Geld. Trotzdem halte er das für sinnvoll, weil es auch einen edukativen Charakter habe und die Patienten dazu bringe, sich mit dem Thema Hepatitis auseinanderzusetzen.

    Qurishi erläutert auf die Frage, wie hoch denn die geschätzte Zahl an unentdeckten Hepatitis-Infektionen in Deutschland sei, dass man von rund 700.000 unentdeckten Infektionen ausgehe. Zum Vergleich: Bei HIV schätzt das RKI die Zahl der unentdeckten Infektionen auf 8.000 bis 10.000.

    Ein Zuhörer erklärt, dass die die meisten substituierenden Ärzt*innen Hepatitis nicht behan-deln, weil sie nicht die notwendige Qualifikation dafür haben. Diese bräuchten sie aber, um sich nicht dem Risiko auszusetzen, in Regress genommen zu werden, wenn sie ein Medikament für 30.000 Euro aufschrieben.

    Qurishi stellt richtig, dass jede*r Ärzt*in eine Hep-Behandlung verschreiben könne, ohne einen Regress fürchten zu müssen. Seit Jahren gebe es keine Regressforderungen gegenüber den Be-handler*innen. Ein weiteres Problem bei den Patient*innen sei auch, dass viele gar nicht wüssten, dass die Hep-Behandlung inzwischen sehr einfach und gefahrlos ist. Manch einer käme in ihre Praxis und sagte, er wisse seit 15 Jahren von seiner Hepatitis, aber er habe Angst vor einer Interferon-Behandlung mit dem Risiko, depressiv oder suizidal zu werden. Interferon werde allerdings, erklärte Qurishi, seit inzwischen sieben Jahren bei Hepatitis nicht mehr eingesetzt.