GESUND LEBEN: ANGEBOT ODER VERPFLICHTUNG?

Provokante Fragen des Moderatorenteams:

  • Darf man verlangen, dass Menschen sich impfen lassen, um sich und andere zu schützen?
  • Dürfen Ärzt*innen verlangen, dass ihre Patient*innen vernünftig sind?
  • Dürfen Patient*innen bestraft werden, wenn sie unvernünftig sind, also zum Beispiel wen sie Sex haben, rauchen, Freunde treffen, mit denen kiffen?
  • Was ist eigentlich erlaubt im Leben?
  • Wieviel gesundheitsschädigendes Verhalten darf man eigentlich mit öffentlichen Mitteln gutheißen?
  • Dr. Dr. Stefan Nagel | AMEOS Reha Klinikum Ratzeburg
    Prof. Dr. Stefan Esser | Universitätsklinikum Essen

    anschließend weitere Diskussion mit:
    Dr. Sandra Dybowski | Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales NRW
    Lina Kabangu | MiSSA NRW
    Arne Kayser | Aidshilfe NRW | Bochum
    Susanne Kottsieper | Netzwerk JES NRW | Dortmund

    Moderation: Jeanne Turczinsky und Holger Wicht

  • Die meisten verstehen darunter, bestimmten mehr oder weniger rationalen Regeln, also normativen Vorgaben, zu folgen. Das ist ein außerordentlich problematischer Satz, denn das kollidiert sehr häufig mit anderen Wünschen und Bedürfnissen. Kann ‚gesund leben‘ auch heißen, ein zufriedenstellendes Leben zu führen, in Anlehnung an den Gesundheitsbegriff der WHO von körperlichem, seelischem und sozialem Wohlbefinden? Lustaspekte sollten auch eine Rolle spielen.

    Auffällig ist bei den Gesundheitsregeln aber, dass sie im Wesentlichen asketischen Idealen frönen. Es geht also darum, vornehmlich Dinge nicht zu tun bzw. zu unterlassen, plakativ gesagt also möglichst keinen Spaß zu haben. Das ist meines Erachtens auch einer der Gründe für die stupende Erfolglosigkeit von Prophylaxe-Programmen, weil die so gar keinen Spaß machen.

    Ein zweiter wichtiger Punkt ist, dass wir insgesamt unter immer unzufriedenstellenderen Lebensbedingungen leben. Wenn ich mir zum Beispiel mein Arbeitsleben anschaue, stelle ich fest: Spaß macht das eigentlich nicht – aus den verschiedensten Gründen, auf die ich hier nicht näher eingehen möchte. Gleichzeitig aber haben wir Gesundheit als einen ‚Superwert‘ etabliert. Wir sind ständig dabei, uns mit unserer Gesundheit zu beschäftigen. Aus jedem Wert wird aber in unserer Gesellschaft direkt zur Pflicht. Zu jeder Pflichterfüllung gehört dann auch die Kontrolle, auch die Selbstkontrolle. Ich frage mich immer, wer sich freiwillig so eine Motiontracker-Uhr umschnallt, um dann womöglich noch die dadurch ermittelten Gesundheitswerte direkt an die Krankenversicherung übertragen zu lassen. Diese Menschen sind dann bereit, sich mit höheren Versicherungsprämien dafür bestrafen zu lassen, wenn sie mal wieder gegen ihre normativen Vorgaben zum gesund leben verstoßen haben. Der Witz an diesen Regeln ist, dass sie wie so oft zwar sehr hoch, aber dafür sehr wenig eingehalten werden. Beispiel Lügen: Das finden alle schlecht, aber trotzdem lügt jeder von uns ungefähr 200mal am Tag.

    Aber: Verhalten wir uns dann nicht sogar unsolidarisch, wenn wir normabweichendes, also gesundheitsschädliches Verhalten akzeptieren oder gar praktizieren? Zum Beispiel aggressives Autofahren. Oder sind die protestantischen Fahrerinnen und Fahrer die passiv aggressiven und unsolidarischen Autofahrer, wenn sie demnächst mit Tempo 100 den Autobahnverkehr behin-dern und alle belehren, sorry, ein positives Beispiel geben?

    Die Einhaltung von vermeintlich gesundheitsfördernden Regeln bedeutet nicht automatisch, dass wir solidarisch sind. So ist es zum Beispiel extrem unsolidarisch, immer gesünder zu leben und dadurch zugleich immer älter und kränker zu werden und in der Folge die sozialen Sicherungssysteme erheblich zu belasten. Die Nicht-Einhaltung von vermeintlich allgemeinen und gesundheitsfördernden Regeln bedeutet nicht automatisch, dass wir unsolidarisch sind. So er-bringt zum Beispiel der Übergewichtige, auch wenn er bis dahin etliche Kosten verursacht, durch seinen frühen Tod eine erhebliche Ersparnis für die sozialen Sicherungssysteme. Das alles hängt mit dem Freiheitsbegriff zusammen. Freiheit ist die Bedingung der Möglichkeit, gemäß dem eigenen Wollen handeln zu können oder zu handeln. So ist zumindest meine persönliche Definition.

    Dass wir in einem bestimmten Umfang gemäß unserem Wollen handeln können, bedeutet we-der, dass dieses Handeln zwingend egoistisch und nazistisch ist, noch, dass es das nicht ist. Die Freiheit ist bezogen auf diese ethische Frage, die moralische Frage, zunächst einmal neutral. Allerdings ist sie zugleich die Bedingung der Möglichkeit, überhaupt ethisch handeln zu können. Das ist ja der Witz an der Geschichte, denn wenn nur Normen befolgt werden und seien diese noch so gut, verhält man sich ja nicht wirklich moralisch, auch wenn es so erscheinen mag, sondern lediglich folgsam. Das ist aber kein moralisches Verhalten, das ist ein Unterwerfungsverhalten und ist damit gerade nicht eigenständig ethisch.

    Die Freiheit hat aber einen Zwilling, der das Problem erheblich verschärft, und dieser Zwilling heißt Verantwortung. In dem Moment, wo ich wirklich frei bin und wirklich selbst autonom entscheide und handle, bin ich für alles und jedes, was daraus resultiert, verantwortlich. Denn ich kann ja nicht mehr sagen, der liebe Gott ist schuld, der hat mir das gesagt, oder der Staat ist schuld, der hat mir das gesagt, oder der Pfarrer hat mir das gesagt, oder mein Vorgesetzter hat mir das gesagt, oder die Gesellschaft hat mir das gesagt. In dem Moment, wo ich frei bin und Freiheit beanspruche, bin ich auch automatisch in der Pflicht.

    Denken Sie an die rechten Gruppen, die unter dem Freiheitsaspekt glauben, alles tun zu dürfen. Dann müssen wir uns einfach nur mal Gedanken darüber machen, wie weit der Freiheitsbegriff denn ein Begriff ist, der tatsächlich ein Freibrief sein soll oder vielleicht auch nicht. Das gilt dann auch für gesundheitliches Verhalten. Aber der Freiheitsbegriff muss beinhalten können, dass wir uns auch unvernünftig verhalten können, und das heißt auch ungesund verhalten kön-nen, sonst wäre es ja gar keine Freiheit.

    Jeder definiert ja anders, was vernünftig ist, und insofern ist der Begriff relativ unbrauchbar. Aber wir wissen alle, was gemeint ist: ein irgendwie rational und argumentativ begründetes Verhalten. Ich muss aber die Freiheit haben, unvernünftig zu sein. Denken Sie an Sexualität. Zumal ich ja nicht immer weiß, was vernünftig ist. Ich bin ja nicht immer sicher, ob der Verzicht auf Sexualität vernünftiger ist, als die Praktizierung von Sexualität, besonders unter Liebes- und Gesundheitsbedingungen.

    Ich will noch zwei Sätze zur Prophylaxe oder zur Prävention verlieren. Eine sinnvolle Gesundheitsprophylaxe, das wissen wir eigentlich alle, kann nur funktionieren, wenn sie ebenso Ver-hältnisprävention ist, wie auch Verhaltensprävention. Das heißt, wenn wir es schaffen, Lebens-bedingungen und Verhältnisse zu schaffen, in denen wir uns überhaupt nur sinnvoll und vernünftig verhalten können. Und wir tun im Moment alles weltweit und gesamtgesellschaftlich, um genau das zu verhindern. Wir werden in wenigen Jahren überrollt werden von den Klima-veränderungen. Und wenn man guckt, was wir jetzt dagegen tun, dann ist das geradezu lächerlich in seinem Minimalismus und in seiner programmierten Wirkungslosigkeit - die übrigens auch beabsichtigt ist, denn wir wollen ja nicht, dass es etwas kostet. Dafür wird es uns am Ende umso mehr kosten und wir werden es irgendwann nicht mehr bezahlen können. Soviel zum Thema vernünftiges Verhalten.

    Wenn gesund leben eine normative Verpflichtung eines Einzelnen bleibt, wird es kein gesundes Leben geben, sondern allenfalls Scham und Schuldgefühle bezüglich des jeweiligen Normenverstoßes. Das können wir bei den Krankheiten, über die wir hier reden, ja gut beobachten. Solche Gefühle verhindern aber, wie wir ja inzwischen gut wissen, Prävention, sie verhindern also letzt-lich, gesund zu leben. HIV-Prävention funktioniert bekanntermaßen nur wirklich gut in den Ländern, wo die Teilnahme der Prävention freiwillig ist und nicht da, wo sie eine Norm oder eine Pflichterfüllung ist. Die Schlussfolgerung lautet also, gesund leben als Verpflichtung ist das Ge-genteil von gesund leben. Gesund leben als Angebot scheint mir genauso problematisch. Gesundheit ist kein Gemischtwarenladen, in dem man sich bedient und in dem man Angebote erhält. Auch wenn dieser Angebots-Begriff scheinbar einem vordergründigen Freiheitsbegriff genügt, dann verfehlt er aber die Frage der Verantwortung dennoch. Denn es geht hier nicht um den Konsum von etwas.

    Mein Fazit lautet: Wir können offenbar nur denken, wir würden gesund leben, entweder als pseudoaktive oder pseudoautonome Erfüllung von von außen vorgegebenen Denk- und Verhal-tenspflichten oder als genauso pseudoaktiven und pseudoautonomen Konsum eines wiederum von außen vorgegebenen Denk- und Verhaltensangebots. Das ist nach meiner Überzeugung der Grund dafür, warum wir nicht wirklich gesund leben, ungeachtet der grandiosen technischen Erfolge, die wir im Umgang mit Krankheiten erzielt haben.

    Ganz abgesehen davon, dass es existenziell betrachtet ohnehin kein gesundes Leben gibt.

  • Auf diese Frage bekommt man bei einer Suchmaschine im Internet mehrere Millionen Antworten. Der überwiegende Teil davon ist kommerziell motiviert, also ist die Gesundheit offenbar vor allem eines, sie ist teuer. Jetzt frage ich hier alle im Raum: Wer von Ihnen ist eigentlich gesund? Ich als Arzt kann Ihnen sagen, egal zu welchem Ergebnis Sie kommen, Sie sind einfach nicht richtig untersucht.

    Spaß beiseite: Zum gesunden Leben gehören zum Beispiel Vorbeugen, Prävention, Früherken-nung, verschiedene Dinge, mit denen ich mein Risiko minimieren kann, zum Beispiel in der Ernährung, nicht Rauchen, Sport treiben und so weiter. Was ist also Gesundheit? Laut WHO ist das der Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens. Das ist ein Grundrecht für jeden Menschen, elementarer Bestandteil der Lebensqualität und notwendig für die persönliche Entwicklung. Gefordert dazu werden grundlegende Bedingungen wie Frieden, keine Armut, Chancengleichheit. Alles große Ideale, die letztlich gesellschaftlich umgesetzt werden müssen, um Gesundheit zu ermöglichen.

    Es gibt unterschiedliche Konzepte zur Gesundheitsförderung. Was sagt die WHO? Gesundheitsförderung zielt auf einen Prozess, allen Menschen ein höheres Maß an Selbstbestimmung über ihre Gesundheit zu ermöglichen und sie damit zur Stärkung ihrer Gesundheit zu befähigen – also ein sehr förderndes Konzept. Wenn man sich die BZgA-Begriffserklärungen anschaut, gibt es eine biomedizinische Perspektive. Das sind wir Ärztinnen und Ärzte: Gesundheit als Abgrenzungskon-zept. Gesundheit als Abwesenheit von Krankheit. Letztlich aber werden dem oder der als krank Eingestuften dadurch Leistungen zur Verfügung gestellt. Man kann krankgeschrieben werden, man kann verrentet werden, man kann Medikamente bekommen, man kann Krankengymnastik bekommen. Verschiedene Maßnahmen werden als berechtigt angesehen, wenn eine Person unter einer Krankheit leidet.

    Dann gibt es soziologische Aspekte: Leistungs- und Arbeitsfähigkeit, seelisches Gleichgewicht, die Möglichkeit der flexiblen Anpassung an Umweltbedingungen und Gesundheit als Wert. Alle Wünsche werden klein neben dem, gesund zu sein. Das klingt gut, aber das kann auch bedeu-ten: Zwang. Ich kann ja auch jemand zu seinem Glück zwingen, oder? Ist das richtig? Ist der Wert der Gesundheit so hochstehend, dass das erlaubt sein soll? Nun, wie sehen das die Kostenträger? Da gibt es sozusagen ein Gleichgewicht zwischen Solidaritätsprinzip und Eigenverantwortung. Zum Solidaritätsprinzip gehört, dass man unabhängig von der finanziellen Leistungsfähig-keit oder entsprechend der finanziellen Leistungsfähigkeit seine Breiträge verrichtet. Aber es ist in den gesetzlichen Krankenkassen so, dass es vollkommen egal ist, wie mein persönliches gesundheitliches Risiko ist. Das ist anders bei den privaten Kassen. Das heißt, ich werde auf jeden Fall versichert. Und ich habe auch unabhängig von meiner Beitragshöhe Anspruch auf alle Leis-tungen, aber im Gegenzug wird Eigenverantwortung erwartet. Das heißt, ich sollte mich um meine Gesundheit kümmern. Und was wir sicherlich gleich am intensivsten diskutieren werden, ich soll eine gesundheitsbewusste Lebensführung haben, unnötige Risiken vermeiden. Was be-deutet das eigentlich? Skilaufen, Bergsteigen, Rauchen, Stress: Wer kann denn stressfrei leben, wer lebt in einem Umfeld, wo er Stress gar nicht kennenlernt?

    Ich möchte das Ganze einmal aus ärztlicher Perspektive an drei Problemfällen klar machen:

    Erster Problemfall Masern:
    Die meisten hier im Raum haben vermutlich keine persönlichen Er-fahrungen mit Masern. Viele werden auch geimpft sein. Masern selber können schwerwiegende tödliche Komplikationen auslösen, vor allen Dingen bei Schwangeren und kleinen Kindern, wenn diese nicht geimpft sind. Es gibt bis heute keine ursächliche Therapie. Wenn man geimpft ist, werden – anders als bei Covid – Ansteckungen verhindert, die Schwere des Verlaufs redu-ziert und es gibt auch weniger Todesfälle. Laut Sicht der WHO wurden durch konsequente Impfung bereits über 30 Millionen Maserntote. Deswegen strebt die WHO eine sogenannte Her-denimmunität an, wie wir das von den Pocken kennen. Das heißt: Wenn es uns gelingt, 95 Pro-zent der Bevölkerung zu impfen, dann könnten wir die Masern komplett ausrotten. Wir sind schon bei 86 Prozent. Aber in einem der reichsten Länder der Welt – in Deutschland – sind wir davon noch weiter entfernt als manches Entwicklungsland. Deswegen hat sich der Gesetzgeber entschieden, ein Gesetz zu verfassen, welches die Bürgerinnen und Bürger mehr oder weniger über Zwangsmaßnahmen zu einer Impfung drängt. Das heißt, Bußgelder können verhängt wer-den, im Gesundheitswesen Beschäftigte müssen eine Impfung vorweisen, um ihrem Job nachzu-kommen. Das geht bis hin zu Tätigen in den Kitas.  Die Position ist: Wir brauchen Gesetze, die auch die Uneinsichtigen und Beratungsresistenten zur Impfung zwingen. Und das vor allen Dingen deswegen, weil sich nicht alle Menschen gleichermaßen impfen lassen können: Es gibt immunsupprimierte und andere Menschen, bei denen das nicht möglich ist. Deswegen kommt den in Verantwortung stehenden Gesunden hier eine besondere Aufgabe zu. Damit waren nicht alle einverstanden. Sie wissen, es gibt immer mehr Impfgegner, und so wurde das Bundesverfassungsgericht mit einer Beschwerde bemüht: Vier Elternpaare waren der Ansicht, die Impfung sei unverhältnismäßig für die körperliche Unver-sehrtheit ihrer Kinder und ihr Elternrecht sei eingeschränkt. Die Masernimpfung allerdings ist sehr breit erprobt, bisher gilt sie als sehr gut verträglich und nur von wenigen Nebenwirkungen gekennzeichnet. Aber wie hätten Sie entschieden? Finden Sie diesen Zwang zur Masernimpfung gerechtfertigt?

    Zweiter Problemfall Drogensuchmittel, hier am Beispiel Rauchen:
    Rauchen ist nach wie vor das größte vermeidbare Gesundheitsrisiko in Deutschland, gerade unter der HIV-positiven Commu-nity ist das Rauchen noch besonders stark verbreitet. Eben hieß es, dass ungesunder Lebensstil Rentenkosten vermeide. Das stimmt nicht. Laut einer Untersuchung des Deutschen Krebsforschungszentrums (DKFZ) schont auch der Raucher nicht die Rentenkasse, denn er bemüht durch Einschränkungen bei der Arbeit die Rentenkasse viel früher als der Nichtraucher. Das DEFZ stellt fest, dass 80 Milliarden Euro direkte und indirekte Kosten durch den Tabakkonsum auf die Ge-sellschaft zukommen. Die persönlichen negativen Auswirkungen des Rauchens kennen Sie alle, kennt auch jeder Raucher, damit hat ihm jeder Arzt schon mal in den Ohren gelegen. Und zum Beispiel ein HIV-positiver Mensch, der durch seine antivirale Therapie seine Gesundheitssituati-on deutlich verbessern kann, hebt durch konsequentes Rauchen diese Vorteile zum Teil wieder auf. Dazu ein konkretes Beispiel, wie jeder, der hier sitzt, es vielleicht schon mal erlebt hat: Ein 58-jähriger HIV-positiver Mann hat Durchblutungsstörungen, vermeintlichen Schlaganfall, Bluthochdruck, hat sogar schon eine obstruktive Atemwegserkrankung, hat anale Dysplasien, also lauter Erkrankungen, die durchs Rauchen unterstützt hervorgerufen werden. Er selber bekommt von seinem Arzt regelmäßig eine Predigt gehalten. Das ist anstrengend für beide Seiten. Für den Patienten ist das Rauchen allerdings auch Gemütlichkeit und Geselligkeit. Er raucht schon seit seinem 15. Lebensjahr, denkt auch gelegentlich ans Aufhören, aber er schafft es einfach nicht. Da er seinen Arzt zwar eigentlich mag, aber ihm das auf die Nerven geht, denkt er weniger dar-über nach aufzuhören, weil er eben schon so lange Raucher ist, sondern eher darüber, seinen Arzt zu wechseln. Ich habe hier extra nicht erwähnt, wie der Arzt ihn beraten hat. Der Arzt könnte natürlich auch darüber nachdenken, ob er die richtige Beratung durchführt und ob dies das Ziel seiner Beratung sein sollte. Daraus folgt eine Position, die man hören und vertreten kann: Rauchen sollte verboten werden, oder Tabakprodukte sollten so teuer sein, dass sie sich keiner mehr leisten kann.

    Dritter Problemfall Hepatitis-C:
    Wenn man einen Patienten hat, der zum dritten Mal eine sexu-ell übertragbare Hepatitis-C-Infektion hat und die Therapie dazu jedes Mal 30.000 oder 40.000 Euro kostet, dann gibt es schon den einen oder anderen Arzt oder die Ärztin, die da mit Zähneknirschen sitzen. Dazu der konkrete Fall: Ein 36-jähriger HIV-positiver Mann, der sicher aus einem schwierigen Lebenshintergrund kommt und eine diagnostizierte Persönlichkeitsstörung hat. Dieser ist zurzeit nicht in der Lage, konsequent seine antiretrovirale Therapie einzunehmen, verpasst regelmäßig Termine, hat inzwischen auch eine chronische Hepatitis-C und taucht auch mit weiteren neuen Geschlechtskrankheiten wie Syphilis, Gonorrhoe und so weiter auf. Er berichtet – was ich gut finde – offen und ehrlich über seine Probleme und auch darüber, dass er gelegentlich Chem-Sex macht. Nun, wenn der Arzt dann oder die Ärztin mit ihm spricht, dann sagt er ganz klar: „Heute nimmt keiner mehr Kondome. Wieso sollte ich auf Sex verzichten, die anderen können ja auch auf sich selber aufpassen, oder?“ Er sagt natürlich seinen Sexpartnern nicht, dass er eine HIV und Hepatitis-C hat, weil er glaubt, dann in der Szene keinen Partner mehr finden zu können. Außerdem ist er der Meinung, dass diejenigen, die ihn angesteckt haben, sich ja auch nicht darum gekümmert haben, dass er gefährdet war. Dann stört ihn sehr, dass man sozusagen als Chem-Sex-Gebraucher gleich in die Gruppe der Drogensüchtigen gestopft wird, er hat das alles im Griff. Sehr genervt ist er auch davon, dass sein Arzt ihn immer wieder davon überzeugen will, Pillen zu schlucken. Der soll sich doch mal den Beipackzettel durchlesen: Dieses ganze Gift, was er da in sich hineinstopfen soll. Diese ganzen Medikamente verträgt er nicht und er ist der Überzeugung, dass er alleine damit fertig wird, und er möchte sich auch keine Angst machen lassen.

    Nun, das sind jetzt mal drei Fallbeispiele, die Fragen aufwerfen:

    • Muss ich alles machen, was mir empfohlen wird? Stichworte Autonomie, Selbstbestimmung, Individualität und eigene Verantwortung oder gemeinsam und mit Solidarität, Gemeinschaft, aber auch Zwang oder Fürsorge?Kann ich alles machen, was mir empfohlen wird? Bin ich dazu in der Lage? Was mache ich denn, wenn ich süchtig bin? Was mache ich, wenn ich dement bin? Was mache ich, wenn ich eine Persönlichkeitsstörung habe? Was ist, wenn ich nicht ausreichende Mittel habe? Es gibt Patienten, die haben große Probleme, mitunter schon die Zuzahlungen leisten zu können, weil sie eben nicht wohlhabend sind. Also es gibt auch Barrieren und Einschränkungen, den Empfehlungen oder dem gesunden Leben zu folgen.
    • Und wenn ich das dann nicht tue, wenn ich also mache, was ich will und mich um nichts schere, wer hat denn dann dafür aufzukommen für das, was da mit mir geschieht, für meine Krankheiten, für meine Leiden? Ist dann wieder die Solidarität der Gemeinschaft gefragt? Kann ich dann sagen: Okay, jetzt müsst ihr aber ran, weil ich eben nicht will, wie ihr wollt? Und sind dann aber Gesetze, Verbote und Zwang wirklich die geeigneten Maßnahmen, um mehr gesundes Leben oder gesünderes Leben hervorzurufen? Und wann sind diese vertretbar (Beispiel Masern) und wann sind diese auch zielführend?
  • Stefan Nagel hat Probleme damit, wenn bestimmte Verhaltensweisen mit dem Stigma der Schädlichkeit besetzt werden, andere aber nicht. Wenn man zum Beispiel den Raucher oder den Chem-Sex-Praktizierer zur Rechenschaft ziehen will, andererseits aber niemand auf die Idee käme, einen Arbeitgeber zu bestrafen, wenn er stressreiche Arbeitsbedingungen einführt. Nagel kritisiert, es gebe ein sehr ungleiches System auf der Bewertungsebene: „Wir kritisieren das eine als bedenklich und problematisch, während wir andere Verhaltensweisen, die extrem ungesund sind, bewundern, wie zum Beispiel Bergsteigen: Reinhold Messner, lebenslang extrem ungesundes Verhalten, ist ein Held, der im Europa-Parlament saß. Ein Raucher hingegen ist ein Schädiger der Solidargemeinschaft. Ich bin dafür, genauer hinzugucken, bevor ich urteile.“

    Jeanne Turczynski: „Heißt das in der Konsequenz, wir können Risikoverhalten normativ nicht unterschiedlich bewerten, und weil wir es nicht können, müssen wir sagen: Risikoverhalten ist eben Risikoverhalten, und da ist die Solidargemeinschaft für da?“

    Nagel: „Eben nicht. Ich finde: Wenn Leute für ungesundes Verhalten kritisiert und bestraft wer-den, dann möchte ich, dass alle, die sich ungesund verhalten, bestraft werden. Doch da sind wir als Gesellschaft total gespalten. Wenn uns etwas aus irgendeinem Grund sinnvoll erscheint, dann finden wir das klasse, egal wie schädlich es ist. Und wenn es uns aus irgendeinem genauso fragwürdigen Grund nicht sinnvoll erscheint, dann sind wir hyperkritisch. Ich bin nicht dafür, im Gesundheitssystem das sogenannte Finalprinzip aufzugeben. Damit ist gemeint, dass wir nicht kausal schauen: Der muss zahlen, weil er es selbst verursacht hat, sondern dass wir Menschen behandeln, egal aus welchen Gründen sie in dem Zustand sind, indem sie sind. Das ist ein fun-damentales humanistisches Medizinprinzip und ich bin der Letzte, der dafür plädiert, das aufzu-geben. Das entbindet uns aber nicht von der Frage, auch im Hinblick auf bestimmte Möglichkei-ten ökonomische Art, die wir in den nächsten Jahren nicht mehr haben werden, darüber nach-zudenken, wie stark wir dieses System in Anspruch nehmen und was wir tun können. Aber wir werden es nicht verbessern, indem wir Menschen moralisch verurteilen, um sie dann zu bestra-fen.

    Nagel erklärt auch, er vertrete die seltene Position, dass es keinen Unterschied gibt zwischen Risikoverhalten, was nur die eigene Person betrifft und Risikoverhalten, mit dem auch andere gefährdet werden: „Die meisten Menschen glauben, sie könnten mit ihrem Körper machen, was sie wollen, weil der ihr Besitz ist. Das ist ein sehr fundamentales Missverständnis, was die Kör-perwahrnehmung angeht. Wir haben keinen Körper, der Körper ist kein Besitz, wir SIND ein Körper. Das ist ein fundamentaler Unterschied. Und wenn gegenüber anderen Körpern be-stimmte Regeln gelten, müssen die auch unserem eigenen Körper gegenüber gelten. Ich kann nicht verlangen, andere zu schützen und schütze mich selber nicht.

    Esser betont den Unterschied zwischen seiner Rolle als Arzt und seiner Wahrnehmung als Mensch. Als Arzt ist er natürlich verpflichtet, jeden Patienten mit der bestmöglichen Therapie zu versorgen unabhängig davon was und wie es passiert ist. Als Mensch falle es manchmal schwer, nachzuvollziehen, warum zum Beispiel jemand, der durch das Zündeln mit Feuerwerks-körpern bereits ein Auge und vier Finger verloren hat, weiter unbedingt mit diesen Krachern hantieren will.

    Auch Sandra Dybowski ist der Auffassung, dass es selbstverständlich sei, Menschen medizinische Hilfe zukommen zu lassen, die sie brauchen. Doch man müsse sich auch die Frage nach der soli-darischen Gesellschaft stellen: „Gehört dazu dann nicht auch Rücksicht auf die anderen dazu? Und wenn die Risiken für andere hoch sind, habe ich dann nicht schon eine solidarische Ver-pflichtung anderen gegenüber? Ich möchte gerne in einer Gesellschaft leben, die Rücksicht aufeinander nimmt. Das erstreckt sich dann für mich auch auf das gesundheitliche Handeln.“

    Turczynski hakt nach: „Hieße das dann in ganz praktischer Konsequenz nicht auch Kondome verwenden? Heißt das nicht auch Impfpflicht?“

    Dybowski antwortet, auch mit Blick auf die derzeitige Situation mit den Affenpocken: „Eine Impfpflicht ist aus meiner Sicht das letzte Mittel. Der Staat muss sehr, sehr sparsam damit um-gehen.“ Zugleich habe sie aber auch gerade beim Thema Affenpocken festgestellt, dass das Anspruchsdenken der Bevölkerung in den vergangenen Jahren stark zugenommen hat: „Ich glaube, dass die Ungeduld in der gesamten Gesellschaft gegenüber dem Staat sehr gewachsen ist.“

    Dass Drogenkonsum auch ein Lebensretter sein kann, erklärt Susanne Kottsieper von JES NRW: „Heroin hat mir das Leben gerettet, sonst hätte ich mich schon mit 20 Jahren suizidiert. Seit fast 40 Jahren konsumiere ich illegalisierte Substanzen und versuche das möglichst safe zu tun. Safe für mich, meine eigenen Finanzen und die Finanzen des Solidarsystems. Das klappt bei mir ganz gut, weil ich gern lebe und ich möchte, dass es mir gut geht. Ich denke, das ist eine gute Grundlage.“

    Holger Wicht möchte – etwas zugespitzt – in diesem Zusammenhang von Sandra Dybowski wis-sen, warum sie es für eine gute Idee hält, dass der Staat (sprich das Land NRW) mit der Unter-stützung für JES NRW den Drogenkonsum fördert. Dybowski: „Wir finanzieren nicht die Drogen als solche, sondern den Austausch zwischen Drogen gebrauchenden Menschen und ihren Wunsch, sich eine Stimme und Gesundheit zu verschaffen.“

    Lina Kabangu gibt zu bedenken, dass die bisherige Diskussion in ihren Augen von einer recht privilegierten Gruppe von Menschen ausgeht. Sie rückt Personen in den Blick, die keine Kran-kenversicherung haben, die „illegal“ in Deutschland sind, die HIV-positiv sind und keine Thera-pie bekommen. Es gebe auch Ärzte, die gerne die Behandlung übernehmen würden, es aber per Gesetz nicht dürften. Mitunter würde mit Menschen unterschiedlicher Hautfarbe auch unter-schiedlich umgegangen. Im Zuge der Flüchtlingswelle aus der Ukraine habe sie festgestellt, dass bei weißen Ukrainerinnen keine HIV-Tests gemacht wurden, bei schwarzen Ukrainerinnen aber schon. Sie selbst sei als Schwarze in Deutschland geboren und aufgewachsen, aber bei der Ge-burt ihres zweiten Kindes sei ungefragt bei ihr ein HIV-Test gemacht worden, ohne vorher oder nachher mit ihr darüber zu sprechen.

    Beim Thema Affenpocken fühlt sich Arne Kayser ein bisschen an die Aids-Anfänge in den 1980er Jahren zurückerinnert. Damals gab es – ähnlich wie jetzt mit den Affenpocken wieder – die For-derung nach Verhaltensprävention, also die Schwulen dazu zu bringen, mit dem Vögeln aufzuhö-ren. Und was macht man mit den Unbelehrbaren? Kayser: „Damals gab es in Frankfurt eine ‚De-mo der Uneinsichtigen‘, da hat man von der Allianz der Schmuddelkinder gesprochen. Und das finde ich immer noch ganz tragend für die Aidshilfen und wie wir stehen.“ Die Affenpocken hät-ten in vielen Schwulen noch einmal die Themen Neuschuld, Scham und angstbesetzte Sexualität hervorgerufen.

    Esser geht noch einmal auf den Beitrag von Kottsieper ein, die man ja vordergründig auch zu den „Uneinsichtigen“ zählen könne und fasst zusammen: „Es gibt offenbar innere Notwendigkei-ten, die dieses Verhalten vernünftig und eben nicht uneinsichtig erscheinen lassen. Und des-halb ist es ein sehr gutes Beispiel. Wie könnte denn ein Umgang damit aussehen? Müssen wir Drogen verbieten? Oder müssen wir den Leuten die Möglichkeit geben, auf eine sinnvolle Wei-se damit umzugehen?

    Ich teile übrigens die Auffassung von Frau Dybowski was die Anspruchshaltung angeht. Aber das ist bei allen deutschen Patienten so. Was ich jeden Tag in der Klinik vor mir sitzen habe an An-sprüchen, das spottet jeder Beschreibung. Und das meiste davon macht mir mehr Bauchschmer-zen als ein Drogengebraucher oder ein fickender Schwuler. Da sitzt zum Beispiel eine 200-Kilo-Person, die Knie-Tapes braucht, die aber wegen des Gewichts nichts bringen. Und weil die Per-son nicht operiert werden kann, möchte sie jetzt eine Rente haben. Doch auch da gibt es einen biografischen Hintergrund für diese Situation. Aber das ist ein Gesellschaftsproblem. Wir glau-ben, das Gesundheitssystem sei eine Wundermaschine aus der endlos alles rauskommt, was wir uns wünschen.“

    Das sieht auch Nagel so: „Wir fallen in Deutschland nach wie vor sehr weich. Egal ob ich mich solidarisch oder auch eigenverantwortlich verhalte, letztlich fangen wir noch alles auf. Aber wir haben begrenzte Ressourcen. Ich hoffe, dass wir weiterhin den Luxus haben, uns das leisten zu können. Aber wir haben viel von Lina Kabangus Aussage gelernt: In anderen Ländern sieht das ganz anders aus. Wir haben auch eine Verantwortung für andere Länder und für die Menschen, die ohne Versicherung und ohne alles zu uns kommen. Auch da müssen wir uns weiter bemü-hen, hier und in den Heimatländern für eine gesundheitlich akzeptable Situation zu sorgen.

    Das Thema Affenpocken ist für Esser allerdings eben kein gutes Beispiel für Anspruchsdenken gegenüber dem Staat. Da habe die Community im Gegenteil bewiesen, dass sie verantwortlich reagiert. Sie habe gesagt: „Wir möchten so schnell wie möglich eine Impfung haben, damit wir keinen größeren Schaden anrichten.“ Das sei ja das Gegenteil davon, zu sagen, der Staat müsse liefern. Die Community habe sich total verantwortlich verhalten und sehr früh gesagt: „Wir wol-len alles tun, damit sich das nicht ausbreitet.“ Das finde er ein sinnvolles Vorgehen, das das ei-gentliche Ziel von Präventionsmaßnahmen sein soll. Gerade der Erfolg habe gezeigt, was freiwil-lige Maßnahmen bringen, wenn sie denn freiwillig sind und nicht normativ vorgeschrieben wer-den.

    DAIG-Ärztin: betont, man dürfe nicht vergessen, dass es sich bei Drogengebrauchenden um Suchtkranke handelt, die nicht von jetzt auf gleich ihre Sucht abstellen könnten. Der Nikotin-Konsument könne nicht aufhören, egal wie gut eine Beratung dazu sein mag. Man könne dem Diabetiker auch nicht sagen: „So, jetzt hör ab morgen mal auf, deine Torte zu essen.“ Das be-komme man nicht hin.

    Dem entgegnet Kottsieper, sie fühle sich gar nicht krank. Im Gegenteil ist sie der Ansicht, der weitaus größte Teil der Drogengebrauchenden konsumiere einfach, ohne eine Suchtkrankheit oder eine Abhängigkeitserkrankung aufzuweisen.

    Annette Hammel (Ärztin in Frankfurt) sagt: „Bei dieser Diskussion wird nochmal ganz deutlich, wie unterschiedlich wir gesundheitsschädigendes Verhalten bewerten: Drogenkonsum, das möchten wir nicht, der gute Rotwein am Abend hingegen ist gesellschaftlich akzeptiert. Unser Job als Ärzt*innen ist es, nicht zu werten. Als Privatperson kann ich anders damit umgehen, aber als Medizinerin nicht.

    Esser: Ich sehe grundsätzlich genauso wie Annette Hammel, dass wir als Ärzte erst einmal jeden behandeln müssen. Aber ich bin zum Beispiel bei der Masernimpfung dafür, dass wir Solidarität auch einfordern dürfen. Wenn wir das allen selber überlassen, dann werden wir es nicht schaffen, die Masern auszurotten. Von daher bin ich in bestimmten Bereichen auch für Maßnahmen, die einen gewissen Druck oder Zwang ausüben. Über bestimmte Dinge der Selbstbeteiligung muss man früher später nachdenken, wenn die Solidargemeinschaft nicht mehr für alles auf-kommen kann. Das haben wir bei der furchtbaren Triage-Diskussion gehört, die das auf die Spit-ze treibt: Wer wird beatmet, wer nicht? Darf ich jemanden, der schon beatmet wird, von einem Beatmungsgerät nehmen? Das sind unangenehme Diskussionen. Wir sollten uns bewusst ma-chen, dass Eigenverantwortung zur Solidarität dazugehört. Darüber müsse man im gesellschaftli-chen Rahmen nachdenken, nicht im ärztlichen Rahmen. Als Arzt habe ich die Pflicht, jedem Menschen, der zu mir kommt, die bestmögliche Begleitung zur Verfügung zu stellen. Als Gesell-schaft kann ich aber Grenzen setzen und kann auch zum Beispiel einen Impfzwang ausüben, da wo es sinnvoll ist.

    Allerdings hat man bei den Affenpocken gesehen, dass das super funktioniert hat auch ganz ohne Zwang. Aber der „Vorteil“ von Affenpocken gegenüber anderen Erkrankungen ist, dass die Leute wirklich krank sind, sich beschissen fühlen. Das ist eine beschissene Erkrankung, das wird oft vergessen. Und man kann sie gut sehen. Das heißt, da entscheidet nicht nur die Person, die die Affenpocken hat, sondern auch die andere Person, die möglicherweise gerade Lust gehabt hät-te, mit dieser Person Sex zu haben. Und wenn dann die Hüllen fallen und da sind wunderschöne Affenpocken zu sehen, dann möchte ich den sehen, der dann noch Bock hat, mit dieser Person Sex zu haben.

    Nagel findet, dass Angebote, die man nicht ablehnen kann, keine wirklichen Angebote sind. Zudem entstünde aus Angeboten oft auch eine gewisse Anspruchshaltung beim Patienten. Das möchte Nagel ungern fördern.

    Kottsieper habe bei ihrem Drogenkonsum ganz konkret geholfen, dass sie bei JES zum ersten Mal Leute getroffen habe, die zu ihrem Konsum gestanden haben. Bis dahin sei ihr Leben immer nach dem Motto „täuschen, tarnen und verpissen“ abgelaufen. Im Laufe eines halben Jahres habe sich ihr Standing komplett verändert, sie musste plötzlich nicht mehr lügen, konnte offen sagen, was mit ihr los war. Auch von alternativen Konsummöglichkeiten erfuhr sie. Bis dahin hatte sie stets intravenös konsumiert, mit allen gesundheitlichen Risiken, die damit verbunden waren. Dann hörte sie von der Möglichkeit rektaler Verabreichung, was ihr sehr half.

    Eine Teilnehmerin warf noch einmal die Frage auf, was mit den Menschen passiert, die keinen Zugang zu gesundheitlicher Versorgung haben? Sie äußerte sie Sorge, dass dieses Thema auf so einer halb privaten Ebene abgehandelt wird: „Man kennt einen, der jemand kennt und der be-handelt dann irgendwie. Das ist aber keine staatliche Verantwortung. Und sämtliche Versuche mit anonymen Krankenscheinen sind im politischen Raum stecken geblieben.“ Deshalb bittet sie Frau Dybowski, sich dafür einzusetzen, den Umstand abzuschaffen, dass in Deutschland je-mand nicht behandelt werden kann, weil er oder sie keine Krankenversicherung hat. Das finde sie unerträglich und das sei ein humanistischer Anspruch, dem man da gerecht werden müsse.

    Stephan Gellrich von der Aidshilfe NRW ergänzte dazu, dass dieses Thema am 27.10.2022 auf der Sitzung des Nachfolgegremiums das nationalen Aids-Beirates kurz thematisiert wurde. Die Vertretung des Bundesgesundheitsministeriums habe gesagt, dass dies eine kommunale Angele-genheit sei, mit der man nicht so viel zu tun haben möchte.

    Patrik Maas, Landesgeschäftsführer der Aidshilfe NRW, erklärt: „Wir haben immer nach dem Konzept der informierten Entscheidung gehandelt. Es geht aber gerade beim Thema Menschen und Krankenversicherung und beim Thema Drogengebrauch darum, dass man diese informierte Entscheidung natürlich auch durchführen können muss, dass die Ressourcen vorhanden sind um Krankenkosten bezahlen zu können und dass Safer-Use-Materialien bei Drogengebrauchenden Menschen vorhanden sind, finde ich wichtig. Damit die Menschen ihre Entscheidung so infor-miert wie möglich treffen können. Ich muss es hinnehmen, dass ein Mensch eine Entscheidung trifft, egal, wie sie dann ausfällt.

    Die Moderatorin stellt die Frage an Frau Kabangu, wie Menschen aus der Community, die durchs Raster zu fallen drohen, zu einer informierten Entscheidung kommen können?

    Kabangu antwortet: „Teilhabe!“ Entscheidend sei, auch den Menschen mit einer Sprachbarriere die Informationen nahezubringen, und das nicht aus einer weißen Perspektive heraus, sondern mit der Frage im Hinterkopf, aus welchem Kulturkreis der betreffende Mensch kommt? Wie kann man die Information so weitergeben, dass sie auch ankommt? Wenn festgestellt werde, dass die Kommunikation nicht funktioniert oder der Mensch das trotz mehrfacher Beratungen und Erklärungen nicht hinbekomme, dann könnte ein Sprachmittler ein Lösungsansatz sein.

    Beate Jagla von der Arbeitsgemeinschaft Aids-Prävention NRW findet es peinlich, dass es in vie-len Fällen nicht gelingt, Menschen mit einer ausreichenden Krankenversicherung und Drogen-gebrauch in die Hepatitis-C-Behandlung zu bekommen.

    Siggi Schwarze von der Projektinformation Berlin ist der Meinung, dass bei der ganzen Diskussion ein entscheidender Begriff noch gar nicht gefallen ist, nämlich der Begriff der Schuld. Ist man an seiner Krankheit schuld oder ist man nicht schuld? Und dieses Konzept ist seiner Meinung nach jedoch völlig untauglich. Er habe von Stefan Nagel bei einer anderen Veranstaltung etwas Wich-tiges gelernt: „Lust ist wichtiger als Überleben. Sonst gäbe es nämlich die Menschheit nicht mehr. Wir tun immer so, als würden wir uns alle immer nur vernünftig verhalten. Das ist aber nicht so. Damit müssen wir leben können.“

    Ulrike Haars, Ärztin aus Krefeld, ist bei den Diskussionen um Kosteneinsparungen im Gesund-heitswesen wichtig, dass die Prävention nicht in Vergessenheit gerät, gerade mit Blick auf junge Menschen. Es gebe gute niederschwellige Angebote, wo sich Patient*innen gut aufgehoben fühlten. Haars macht sich Sorgen darüber was passiert, wenn es diese Angebote nicht mehr gäbe.